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Lesetipp: Kinderverschickung in den 1960ern – zwischen Erholung und Qual

Werbung – Rezensionsexemplar

Gezeitenkinder von Luise Diekhoff

Gezeitenkinder
von Luise Diekhoff

Hardcover mit Schutzumschlag, 400 Seiten
978-3-453-27353-5
Erschienen am 29. März 2023 im Verlag Heyne Hardcore (Werbung)
Eine Leseprobe und Bestellmöglichkeiten bei diversen Händlern findest Du auf der Verlagswebsite.

“Norderney 1962: Die junge Hanna fängt im Kindererholungsheim Strandhafer als Pflegerin an. Sie ist voller Hoffnung, einen Beitrag zum Guten in der Welt leisten und den kranken Kindern dort helfen zu können. Doch schnell stößt sie dabei auf Widerstand: Oberschwester Margot leitet das Heim mit harter Hand, Hanna fühlt sich bald von der strengen Frau drangsaliert. Wie kann solch eine herzlose Person die Aufsicht über kranke Kinder führen? Hanna beginnt zu recherchieren. Dabei stößt sie auf immer mehr erschreckende Ungereimtheiten in der dunklen Geschichte des Heims. Sie muss sich entscheiden: wie gewohnt den Kopf einziehen oder für ihre Überzeugungen kämpfen. Und dafür alles riskieren.”

Verlagstext

Achtung Spoiler!

Zusammen mit ihre Cousine Evi hat Hanna die Ausbildung zur Kinderpflegerin gemacht. Krankenschwester zu werden, würde ihr liegen, aber dem steht ihre Leseschwäche, die sie mühsam zu verbergen versucht, im Weg. Sie freut sich von Herzen darauf, auf Norderney zusammen mit Evi ein Jahr zu verbringen und den Kindern Gutes zu tun.

Hanna hat sich zur Vorbereitung Spiele und Geschichten ausgedacht und hat eine traumhafte Strandzeit vor Augen. Evi interessiert sich von vornerein mehr für Partys und Affären. Es zeigt sich schnell, dass es Evi leicht fällt, die Missstände in dem Kinderheim auszublenden und sich auf ihren privaten Spaß zu konzentrieren. Sie macht die Arbeit eh nur, weil ihr Vater das von ihr erwartet, bevor sie zu Hause ins Lichtspielhausunternehmen einsteigen darf.

Hanna hingehen kann nicht wegsehen, wenn Kinder gequält werden, indem ihnen zum Beispiel gegen ihren Willen Essen und Medikamente verabreicht, Isolationszimmer zur Strafe und nicht zum Schutz der Ausbreitung von Krankheiten verwendet und Kinder mit speziellen Themen selbst vom Personal mit erniedrigenden Spitznamen belegt werden.

Das ist der eine Handlungsstrang: Hannas und Evis Weg. Der andere dreht sich um den Niederländer Jan, der seine Tante Ardie sucht, die bis Mitte Mai 1945 auf Norderney gewesen sein müsste. Das knüpft den Bogen zur NS-Vergangenheit einiger Schlüsselpersonen um das Heim herum.

Wilko, Hausmeister des Kinderheims, kommt weder über den kriegsbedingten Verlust seines Bruders noch seines Vaters hinweg und versucht mit seiner Piratenradiosendung Gegen der Vergessen dafür zu sorgen, dass niemand vergisst, was im 2. Weltkrieg auf Norderney passiert ist. Das damals erlittenes Trauma zieht sich bis heute körperlich und mental durch sein Leben. Schafft er es, sich der Vergangenheit seiner Familie zu stellen und dabei selbst zu heilen?

Besonders gefallen hat mir an dem Roman die bildhafte Sprache, gerade in Bezug auf Gedanken und Gefühle, die im Kopf wie Farben und Geräusche wirken, zum Beispiel bei Rita, einem der Verschickungskinder.

“In Ritas Kopf schwappte eine zähflüssige Masse und begrub sämtliche Gedanken mit satten, schmatzenden Geräuschen, die einfach nicht leiser werden wollten.”

Pos. 2594 im Kindle-E-Book

Die Geschichte hat mich berührt und ich habe den Roman in einem Rutsch durchgelesen. Inhaltlich ist es einerseits schwere Kost, weil es um die Misshandlung von Kindern geht. Anderseits ist es aber auch eine schöne Geschichte, wenn man bedenkt, wie sehr Hanna sich für die Kinder gerade macht und versucht, etwas zu bewirken. Ob Dir der Schreibstil liegt, kannst Du beim Sichten einer Leseprobe fix feststellen.

Am Rande

Interessant finde ich, welchen Bezug die Autorin zu der Geschichte hat: Ihre Mutter war in den 1960er Jahren Kinderpflegerin auf Norderney und war ihr bei der Recherche behilflich.

Meine Mutter war genau in dem Jahr 1962, in dem das Buch beginnt, für ein Jahr in einem ähnlichen Kinderheim in Timmendorfer Strand an der Ostsee, die Mutter einer Freundin ein Jahr zuvor auf Helgoland. Beide habe das Jahr in den Kinderheimen als Hilfskraft verbracht, um die Zeit zu überbrücken, bis sie 18 Jahre waren und damit alt genug für die Ausbildung zur Krankenschwester bzw. Erzieherin.

Das war damals für Frauen ein durchaus üblicher Weg, heute würde man das FSJ nennen. Fans von Norderney werden sich beim Lesen anders in die Geschichte einlesen als welche, die Norderney nicht kennen.

Auf Norderney war ich 1982 für zwei Wochen im Sommer und habe die Zeit dort noch gut vor Augen. 1984 war ich auf Borkum => die Westfriesischen Inseln und ich haben ihre Liebe zueinander bisher nicht gefunden . Ich bin im Team Nordfriesland und deutsche Ostseeküste.

Ist das ein Buch für Dich?

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10 Antworten auf „Lesetipp: Kinderverschickung in den 1960ern – zwischen Erholung und Qual“

Guten Morgen Ines, ich glaube eher nicht. Aber Deine letzte Buchvorstellung lese ich gerade. Bin noch gaaanz am Anfang, bin abends im Bett oft schon sehr müde. ☺️
Einen schönen Dienstag wünsche ich Dir, liebe Grüße Tina

Der Thriller? Viel Spaß beim Lesen!

Dir möchte ich dieses Buch wirklich nicht empfehlen. Du würdest zu sehr mitfühlen mit den Kindern. Das war bei mir schon grenzwertig. Zu viele Spiegelneuronen in meinem Kopf …

Einen schönen Tag auch für Dich!

Ich mag diese Themen. Nicht, weil sie schön sind, sondern weil ich einfach etwas über diese Zeit erfahren möchte. Damit diese Dinge irgendwie auch lebendig bleiben.
Wenn die Sprache dann noch so schön ist, wie du beschreibst ist es gelungen.
Sommerliche Grüße (die dir hoffentlich immer eine kurze kühle Brise bescheren)
Nicole

Gegen das Vergessen – im Allgemeinen betrachtet. So sehe das auch. Ich müsste das Thema jetzt nicht ständig haben, aber hier und da finde ich es auch wichtig, an diese Kinder zu denken. Zum Glück spielt sexueller Missbrauch in der Geschichte keine Rolle. Der Rest reicht schon …

Paul und ich gehen heute Mittag ein Eis essen. Die Aussicht lässt mich bis dahin schneller arbeiten, damit ich mir heute Nachmittag frei nehmen kann danach, wenn wir zerflossen sind …

Dieses Buch, liebe Ines, interessiert mich, da es auf Norderney spielt. Dort habe ich Mitte der 1950er Jahre zwei Sommer hintereinander mit meiner Mutter verbracht, schwimmen gelernt und viel über Heinrich Heine gehört. Alles Erinnerungen, die mich mit dieser Ostfriesischen Insel verbinden. Ab und an schmiede ich Pläne wieder im Sommer Norderney zu besuchen.
Danke für den Tipp, und als Hörbuch gibt es das Buch auch schon…
Regengrüsse aus der Hauptstadt,
Gwen

Dann wird Dir das Buch gefallen, denn zentrale Plätze der Insel sind sehr genau beschrieben, Du wirst vieles wiedererkennen beim Hören/Lesen. Viel Spaß dabei!
Regen? Sende sonnige 28 Grad!

Für mich wäre dieses Buch vielleicht eine Aufarbeitung der eigenen Erlebnisse in den 1960er Jahren. Als 5jährige war ich seinerzeit im Winter auf Rantum (Sylt) zur Verschickung. Einige der “Szenen” habe ich heute noch ganz deutlich im Kopf. Ich bin zwar nicht misshandelt worden, aber die Methoden in diesem Erholungs”heim” waren schon sehr fragwürdig. Bei mir gab es auch eine gute und eine böse Person. Erzähle ich Dir bei Gelegenheit persönlich.

Liebe Grüße
Sabine

Als 5jährige im Winter in Rantum alleine im Heim – das zusammen ist schon grausam genug, selbst wenn die Pflegerinnen alle zauberhaft gewesen wären.

Gerne höre ich Deine Geschichte, wenn wir uns das nächste Mal sehen.

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