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Lesetipps Minimalismus

Lesetipp **** Ich will mehr, als Du hast

Werbung – Rezensionsexemplar

Der Haben-Wollen-Reflex von Luke Burgis

Der Haben-Wollen-Reflex
Wie sehr die Macht der Nachahmung unser Leben bestimmt und wie wir uns davon lösen
von Luke Burgis

Paperback , 368 Seiten
ISBN 978-3-86731-255-4
Erschienen am 13. Juni 2022 im VAK Verlag (Werbung)
Eine Leseprobe findest Du auf der Verlagswebsite.

„Warum scheint das Gras auf der anderen Seite des Zauns immer grüner zu sein? Oder anders gefragt: Wieso eifern wir immer anderen nach und wollen haben, was sie haben wollen? Die Antwort liegt tief in unserer Psyche begründet: Wir alle werden von einem mimetischen Begehren gelenkt, einem nachahmenden Verlangen, wodurch Menschen oder Dinge unwiderstehlich anziehend auf uns wirken, sobald sie bereits von anderen begehrt werden (Mimesis = altgriech. Nachahmung). Aus diesem „Haben wollen“ entstehen Eifersucht, Neid und Gewalt. Doch wie können wir uns aus diesem Mechanismus befreien und unseren authentischen Wünschen und Zielen auf die Spur kommen?

Luke Burgis erläutert die psychologischen und soziologischen Hintergründe des mimetischen Begehrens: Abgesehen von grundlegenden Bedürfnissen wie Essen und Trinken wissen wir eigentlich gar nicht, was wir wirklich wollen. Unsere Wünsche und Bedürfnisse richten sich von Anfang an nach dem, was andere für begehrenswert halten, oder danach, was eine Zeit oder eine Mode zu angeblichen Bedürfnissen idealisiert. Das hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, wie zum Beispiel unsere Berufsziele, die Partnerwahl oder den Kleidungsstil. Doch dieses „Haben wollen“ um des „Haben wollens Willen“ kann uns nie wirklich zufrieden stellen. Dies nutzen Werbung, Influencer und Social Media, indem sie ein Verlangen nach ihren Produkten wecken, und in letzter Konsequenz können auch schwerwiegende Konflikte bis hin zu Kriegen auf die Mechanismen des mimetischen Begehrens zurückgeführt werden.

Hier setzt Luke Burgis an. Wir lernen, unser nachahmendes Verlangen zu erkennen und uns daraus zu lösen. So wird der Weg frei, die Dinge zu finden, die wirklich von Bedeutung für uns sind und uns auf lange Sicht erfüllen. Konkrete Taktiken, wie wir dem mimetischen Begehren ein Schnippchen schlagen und die Selbstkontrolle wieder erlangen, runden dieses hochaktuelle Buch ab.

Verlagstext

Gründe für mich, diese Buch zu lesen

  1. Wie sieht es mit dem Umgang und der Kontrolle meines eigenen Haben-Wollen-Reflexes aus?
  2. Wie gehe ich als (Mikro-)Influencer damit meinen Blogleser_innen und Kunden gegenüber um? Denn natürlich möchte ich hier und da Begehren wecken, sonst würde weder Werbung hier funktionieren, mit der ich Geld verdiene, noch jemand meine Beratungsdienstleistungen in Anspruch nehmen, die meine Geschäftsgrundlage sind. Allerdings ist mir dabei wichtig, nur Begehren zu wecken für etwas, das ich selbst auch begehrenswert finde.

Auf der einen Seite bin ich also Kundin, auf der anderen Seite interessiert mich die Marketingsicht. Um es vorweg zu nehmen: Der zweite Punkt trat beim Lesen für mich sehr schnell in den Hintergrund, denn die Perspektive des Autors bezieht sich stark auf sein eigenes Handeln und Empfinden bzw. das seiner Beispielpersonen, auch wenn diese wiederrum Unternehmen führen.

Die Rezension schreibe ich folglich aus meiner Sicht als Verbraucherin und Konsumentin von Social Media. Die Einführung und Teil I – Die Macht des mimetischen Begehrens – haben mir bis Seite 193 sehr gut gefallen. Die Beispiele sind deutlich und werden immer wieder neu verknüpft.

Von Teil II – Die Transformation des Begehrens – hatte ich mich mehr versprochen, der ist mir zu theoretisch dafür, dass es eigentlich um die Umsetzung geht. Den habe ich nach kurzer Zeit nur noch überflogen.

Die letzten 62 Seiten bestehen aus dem Nachwort, Danksagung, Anhang, Anmerkungen, Literatur und Quellen. Es war also nur etwa die Hälfte des Buchs richtig spannend für mich, deshalb bekommt es von mir nur vier Sterne. Für die erste Hälfte hätte es sofort fünf bekommen.

Von Gleichheit und Unterschiedlichkeit

Luke Burgis beschäftigt sich an diversen Stellen des Buchs mit der Frage, welche Rolle Gleichheit und Differenzierung von anderen Menschen der Boden für unser Streben nach Status und Besitz sind.

„Menschen kämpfen nicht, weil sie unterschiedlich sind, sondern weil die gleich sind, und in ihrem Versuch sich zu unterschieden, haben sie sich zu feindlichen Zwillingen gemacht, menschlichen Ebenbildern in gegenseitiger Gewalt.“

Zitat von René Girard nach Sandor Goodhart, im Buch Seite 36f

Als ich das gelesen habe, hatte ich das Gefühl, dass mir ein Spiegel vorgehalten wird, denn ich mag kein Zwilling sein. Ein Grund meines Strebens ist also das Leugnen meines Zwilling-Seins und der enorme Wille, das in Differenzierung auszudrücken. Ich erinnere mich glasklar an die letzte Situation, in der man mich als Zwilling sah und ich mich (verbal) Händen und Füßen gewehrt habe und aus der Situation geflüchtet bin.

„Warum sehen alle Hipster gleich aus und trotzdem hält sich keiner von ihnen selbst für einen?

Seite 104

Die Antwort darauf lautet nach Luke Burgis gespiegelte Nachahmung (Seite 104f). Weil Spiegel die Wirklichkeit verzerren, zeigen sie Dinge seitenverkehrt – aus der rechten Hand wird die linke und umgekehrt. Das Spiegelbild wird zum Gegenteil dessen, was ich im Rivalen sehe. So mache ich scheinbar etwas anderes als das, was der Rivale tut.

Das ist übrigens exakt der Grund, warum ich empfehle, Outfits auf Fotos zu betrachten und nicht nur im Spiegel, weil wir uns auf Fotos so sehen, wie andere Menschen uns sehen.

Abgrenzung von schlechten Vorbildern

Jeder kennt Menschen, bei denen es einem nicht gut geht, wenn wir sehen, was sie machen oder sich darstellen – in sozialen Netzwerken ebenso wie im realen Leben. Ich stimme dem Autoren sowas von zu, dass es wichtig ist, sich von diesem Einfluss zu lösen.

Über die Jahre haben sich in meinem virtuellen Umfeld einige Menschen angesammelt, die mir schlechte Laune machen, wenn ich sehe, wie sie sich im Netz darstellen, um Aufmerksamkeit heischen, illegale Dinge tun für ihre Reichweite und dafür beklatscht werden wollen. Meine Nerven und Zeit sind mir schon lange zu schade dafür, mich mit solchen Menschen zu beschäftigen.

Ich entfolge solche Menschen, lese deren Posts wirklich nicht mehr, und blockiere sie, falls sie mir im Netz dennoch vorgeschlagen werden. Ich kenne einige Blogger, die immer wieder bei ihren Feinden lesen als Amüsement und mir dann ab und an mal die größten Aufreger zukommen lassen.

Nach dem Motto: Das musst Du jetzt wirklich mal gesehen haben, was die da wieder veranstaltet. Nein, muss ich nicht. Will ich nicht. Ist nicht gut für meine Psycho-Hygiene. Seit ich diese Einstellung habe, bin ich wesentlich entspannter, was meine eigene Präsenz im Netz angeht.

Finde Dein Schwungrad

Der Autor arbeitet mit dem Bild des Schwungrads, das wirklich schwer in Gang zu bekommen ist, aber wenn es sich erst einmal dreht, durch kleine Impulsen immer schneller wird. Er schreibt (Seite 131), dass die wirkungsvollsten persönlichen Schwungräder Menschen haben, die sich selbst gut kennen und dass diese Menschen vermutlich von sich aus wissen, welche Dinge die Wahrscheinlichkeit erhöhen oder verringern, dass sie zukünftig etwas Bestimmtes tun wollen.

Seit ich in den letzten Jahren zu dieser Klarheit gekommen bin, was mir wichtig ist und was ich bereit bin, dafür zu tun, geht es mir erheblich besser. Einen deutlichen Anteil bei der Verfeinerung haben die Corona-Jahre 2020/21 dabei gehabt mit den verbundenen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Sorgen. Einen ebenso großen Anteil dürfte das Streben nach Minimalismus im Haushalt und Kleiderschrank daran haben.

Für wen ist das Buch?

Das Lesen des Buchs kann sinnvoll sein für Dich, wenn Dir unklar ist, welche Mechanismen Dich und Deinen Haben-Wollen-Reflex steuern. Jeder wird etwas lernen beim Lesen. Für mich war der geleugnete Zwillingsteil wichtig, für andere sicher etwas anderes.

Es ist ein Sachbuch mit teils recht wissenschaftlicher Sprache und vielen Zitaten. Dich erwartet keine Unterhaltungslektüre, sondern Fachliteratur – aber auch die kann unterhaltsam sein.

Wie gehst Du mit dem Haben-Wollen-Reflex um?


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Lesetipp ***** Was siehst Du in Deinem Gesicht?

Werbung – Rezensionsexemplar

"Sich sehen - Gespräche über das Gesicht" von Ursula März und Luiza Braun mit Portraitfotos von Fabian Schellhorn

Sich sehen
Gespräche über das Gesicht
von Ursula März und Luiza Braun
mit Porträts des Fotografen Fabian Schellhorn

Gebundene Ausgabe, 348 Seiten
ISBN 978-3-86971-248-2
Erschienen am 8. September 2022 bei Galiani Berlin (Werbung)
Eine Leseprobe und Bestellmöglichkeiten bei diversen Händlern findest Du auf der Verlagswebsite.

„Luzia Braun und Ursula März treffen prominente und nichtprominente Persönlichkeiten zu eingehenden Gesprächen über blaue Augen, Spiegelstadium, Visagenzorn und Super-Recognizer.

Eine moderne Kulturgeschichte des Gesichts – mit Peter Sloterdijk (Philosoph), Meike Ramon (Neurowissenschaftlerin), Wolfgang Joop (Mode-Designer), Robert Seethaler (Schriftsteller), Tanja Fischer (Dermatologin), Anastasia Biefang (Bundeswehr-Kommandeurin), Axel Schulz (Boxer), Adriana Altaras (Schauspielerin und Autorin), Eric Wrede (Bestatter) u.v.m.

Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit war das eigene Gesicht so allgegenwärtig wie heute. Ob auf Fotografien, in Filmaufnahmen, Videochats oder im Spiegel – ständig sehen wir uns selbst. Doch was macht das mit uns? Lebten unsere Vorfahren, die viel seltener mit dem eigenen Abbild konfrontiert waren, vielleicht unbefangener? Hilft die pausenlose Selbstbegegnung bei der Selbsterkenntnis?
Das Gesicht als Bühne der Seele – gilt das noch im Zeitalter der ständigen Selbstoptimierung?

Die Journalistinnen Luzia Braun und Ursula März haben 19 Menschen getroffen, die aus verschiedenen Blickwinkeln über das Gesicht nachdenken – als Boxer oder Influencerin, Modemacher oder Dermatologin, als Zwilling oder Transgender, als Philosoph oder Bestatter, als Schriftstellerin oder als jemand, dessen Gesicht sich radikal veränderte.

Lebens- und berufserfahren erzählen diese Persönlichkeiten mit großer Offenheit und Klugheit über unser wichtigstes Ausdrucksmittel und davon, was »sich sehen« für sie bedeutet.

Verlagstext

Interessant finde ich, dass die Portraitfotos immer erst am Ende des jeweiligen Interviews zu sehen sind. Wenn man die Person nicht bereits von Bildern kennt, entsteht im Kopf erst einmal ein ganz anderer Eindruck, als wenn die Autoren mit den Portraitfotos beginnen würden.

Stattdessen startet jedes Kapitel mit einem Intro der Autorinnen mit Gedanken zu der Person, die sie interviewen werden, oder dem Thema, für das die Person steht. Die Interviews beginnen nach Möglichkeit damit, dass vor der Person ein Handspiegel aufgestellt wird und die Frage

„Können Sie bitte beschreiben, was Sie im Spiegel sehen?“

Seite 19

gestellt wird. Spannend finde ich, wie unterschiedlich Menschen ihr eigenes Gesicht beschreiben. Einige sind eher sachlich und beschreiben Formen und Farben. Andere formulieren eher Emotionen wie Fröhlichkeit oder Traurigkeit. Einige sehen ganz selbstverständlich sich und andere können mit ihrem Spiegelbild wenig anfangen oder meiden es im Alltag sogar gezielt.

„Die Unsicherheit gegenüber dem eigenen Gesicht ist die Stellvertreterin einer Art existenzieller Gesamtunsicherheit.“

Seite 257

An dieser Stelle verrate ich Dir ein Geheimnis: Mit Licht mag ich mein Gesicht im Spiegelbild gerne sehen. Im Dunkeln habe ich Angst vor meinem Spiegelbild. Deshalb bin ich froh, dass nachts eine Straßenlaterne in mein Badezimmer scheint, so dass es nie ganz dunkel ist.

Wie siehst Du Dein Gesicht in einem Spiegel?


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Lesetipp ***** Wenn aus Gedanken Selbstjustiz werden könnte

Werbung – Rezensionsexemplar

Der Fremde von Caitlin Wahrer

Der Fremde
von Caitlin Wahrer

Deutsche Erstausgabe
Aus dem Englischen von Melike Karamustafa
Originaltitel: THE DAMAGE (vorher A KINDNESS, Autorenname Regan Rose)
Paperback, Klappenbroschur, 464 Seiten
ISBN 978-3-453-27346-7
Erschienen am 14. Juni 2022 im Heyne Verlag (Werbung)
Eine Leseprobe und Bestellmöglichkeiten bei diversen Händlern findest Du auf der Verlagswebsite.

„Als ihr Schwager Nick nach einem brutalen sexuellen Übergriff im Krankenhaus liegt, ist Anwältin Julia fassungslos. Der Zwanzigjährige hat mit physischen Verletzungen und einem massiven Trauma zu kämpfen – und Julias Mann Tony, der sein Leben lang wie ein Vater für Nick gesorgt hat, wird von Wut und Verzweiflung aufgefressen. Der Verdächtige wird schnell gefunden, doch er bestreitet Nicks Aussage. Gleichzeitig verschlechtert sich Nicks psychischer Zustand dramatisch. Julia bemüht sich, ihre Familie zusammen- und den ermittelnden Polizisten Detective Rice auf Abstand zu halten. Doch Tonys Rachegefühle geraten außer Kontrolle, er macht Julia immer mehr Angst. Und schließlich muss sie sich fragen, wie weit Tony gehen wird, um seine Familie zu beschützen …“

Verlagstext

Den Roman habe ich in Nicoles Blog Life with a glow entdeckt und sie war so lieb, mir das Rezensionsexemplar weiterzureichen. Danke! Da freut sich auch der Verlag, wenn Blogger_innen sich die Bücher teilen. Ihre Rezension findest Du im Beitrag Der Fremde- anders als erwartet.

Ebenso wie Nicole bin ich der Meinung, dass die Bezeichnung Roman die Geschichte nicht trifft. Das ist eher ein Psychotriller. Warum? Die Autorin baut subtil Spannung auf und ich habe dermaßen mit den Protagonisten mitgefiebert, dass ich wirklich gefangen genommen war von der Geschichte.

Ein Teil der Spannung wird dadurch erzeugt, dass zwei Erzählstränge aufeinander zulaufen. Das Buch beginnt 2019 damit, dass Julia Detective Rice privat besucht, der sich im Ruhestand befindet und durch eine Krebserkrankung auf das Ende seines Lebens zugeht.

Rice möchte den Fall mit Julia inoffiziell nochmal besprechen. Ihr sagen, was er für Fehler gemacht hat, und Dinge von ihr für seine Wissenslücken erfahren. Nach dem Eintreffen von Julia bei Rice springt die Handlung ins Jahr 2015, in dem der sexuelle Übergriff passiert ist. In dem einem Strang reden Julia und Rice 2019 darüber, was 2015/2016 passiert ist. In dem anderen bist Du als Leser_in 2015/16 live dabei.

Dass das Buch kein sommerlicher Plätscher-Roman sein kann, ist klar. Wozu Menschen am Ende vielleicht fähig sind wie tief absichtliche und versehentliche Handlungen ineinander verzahnt sein können, ist Grundlage der Story.

„Es ist so leicht, gut zu sein, wenn die Dinge gut laufen.“

Elisa auf Seite 453

Dieses Zitat fasst das Dilemma der Vorkommnisse am bestens zusammen. Die Geschichte ist krass und fesselnd. Die eindringliche Sprache lässt Dich das Buch nicht aus der Hand legen.

Weil die Themen sexuelle Gewalt, Opferrolle, Gerichtsumstände, fragile Familiensysteme und der Wunsch nach Selbstjustiz jeden treffen können, finde ich es immer wieder interessant, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen.

Ist das ein Lesetipp für Dich?


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Lesetipp ***** Drei Frauen in den 1920ern gehen ihren Weg

Werbung – Rezensionsexemplar

Die Radioschwestern von Eva Wagendorfer


Die Radioschwestern – Klänge einer neuen Zeit
Die Radioschwestern, Band 1
von Eva Wagendorfer

Originalausgabe
Paperback , Klappenbroschur, 432 Seiten
ISBN 978-3-328-10796-5
Erschienen am 8. März 2022 im Penguin Verlag (Werbung)
Eine Leseprobe und Bestellmöglichkeiten bei diversen Händlern findest Du auf der Verlagswebsite.

„Drei starke Frauen und ihr mutiger Weg in eine neue Zukunft
Frankfurt, 1927: Ihre Zukunft ist das Radio – da sind sich Gesa, Inge und Margot sicher. Die Freundinnen haben eine Stelle bei einem neu gegründeten Radiosender ergattert und träumen nun von einer glänzenden Karriere. Gesa möchte Hörspielsprecherin werden, die lebenshungrige Inge als berühmte Sängerin die Bühnen der Welt erobern, und Margot möchte endlich als Cellistin von ihren männlichen Kollegen im Rundfunkorchester anerkannt werden. Denn obwohl eine kreative Aufbruchsstimmung in der Luft liegt, müssen die jungen Frauen gegen alte Konventionen ankämpfen. Unterstützung bekommen sie vom neuen Intendanten, zu dem sich Gesa immer mehr hingezogen fühlt. Voller Tatendrang blicken die Freundinnen in die Zukunft, um ihren gemeinsamen Traum wahr werden zu lassen: Endlich frei und glücklich zu sein!“

Verlagstext

Frei und glücklich zu sein, träumt sich leichter, als es in Erfüllung geht. Sowieso und als Frau im 20. Jahrhundert eh. Die drei Freundinnen haben Pläne und wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen, was die finanzielle Versorgung und ihre Berufswahl beinhaltet. Das versteht 1927 nicht jeder Mann, der ihnen über den Weg läuft.

Sexistische Kackscheisse

Mein Bild aus der Kategorie Ohne Worte von neulich passt exakt zu dem, was Margot im rein männlichen Rundfunkorchester passiert. Inge hingegen schlägt zu Beginn einen anderen Weg ein und ist durchaus bereit, körperlichen Einsatz für die Karriere zu zeigen. Dass das auf Dauer meistens nicht bekömmlich ist, ist nichts Neues. Gesa ist in der Hinsicht klarer unterwegs, schleppt aber die Vergangenheit mich sich herum, denn ihre Tante möchte sie gegen ihren Willen verheiraten.

Mir hat an dem Roman die bildhafte Sprache gefallen. Ich kenne in Frankfurt den Hauptbahnhof, den Flughafen und den ÖPNV dazwischen. Also von der Stadt an sich im Grunde nichts. Eva Wagendorfer hat es mit der Geschichte geschafft, dass ich beim Lesen die detailreich beschriebenen Orte vor Augen zu haben glaubte und mit den drei besonderen Frauen durch die Gegend gezogen bin.

Gut gemacht fand ich außerdem, dass die Kapitel jeweils aus der Sicht einer der Hauptdarsteller_innen geschrieben sind und mit einem Zitat beginnen, das Leistungen oder Lebensmomente besonderer Frauen dieser Zeit hervorhebt.

Schnell zu lesen, tief einzutauchen und am Ende eine Aussicht auf eine Fortsetzung: mag ich! Band 2 – Melodien in einer neuen Welt soll am 15. März 2023 erscheinen und steht auf meiner Wunschliste.

Die Radioschwestern von Eva Wagendorfer

Ist das ein Roman für Dich?


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Lesetipp **** Wie man als Popstar in ein neues Leben finden kann

Werbung – Rezensionsexemplar

Die Träume anderer Leute von Judith Holofernes

Die Träume anderer Leute
von Judith Holofernes

Gebundene Ausgabe, 416 Seiten
ISBN 978-3-462-00367-3
Erschienen am 8. September 2022 bei Kiepenheuer & Witsch (Werbung)
Eine Leseprobe und Bestellmöglichkeiten bei diversen Händlern findest Du auf der Verlagswebsite.

„Album, Promotion, Tour. Beinahe zwanzig Jahre lang bestimmt die Dynamik des Musikbetriebs Judith Holofernes‘ Leben. In dieser Zeit wird sie, mit Wir sind Helden und ihrem Soloprojekt, zu einer der bekanntesten und prägendsten Sängerinnen ihrer Generation. In ihrem autobiografischen Buch blickt sie jetzt zurück auf die Zeit nach den Helden, auf Krisen, Träume und eine wegweisende Entscheidung – und zeigt sich dabei als feinsinnige Erzählerin.

Mit großer Klarheit und Zartheit und dem ihr eigenen Witz schreibt Holofernes über Fluch und Segen des frühen Erfolgs der Helden; über die Vereinbarkeit von Familie und Frontfrausein; über die öffentliche Wahrnehmung des eigenen Körpers, das Aufwachsen mit ihrer lesbischen Mutter in Freiburg; über die tiefen Einschnitte in ihrem Leben, die Zweifel, den Schmerz. Immer wieder geht es auch um die Musikbranche, um das Verhältnis zu ihren Fans, eigenartige Konzerte im Hellen, aber auch um die starren Mechanismen des Betriebs und den Sexismus.

Eindrücklich zeigt Judith Holofernes in »Die Träume anderer Leute«, wie sie sich nach und nach aus den kommerziellen Zwängen und der Enge des Musikbetriebs befreit hat. Wie sie zu der Künstlerin wurde, die sie so lange sein wollte – und damit ihr Leben zurückbekam.“

Verlagstext

Die Biographie beginnt 2017 mit einem Alptraum, in den Judith Holofernes gerutscht ist, weil ihr Leben seit dem Ende von Wir sind Helden sich nicht so entwickelt hat, wie es ihr offenbar gut getan hätte. Die Handlung springt dann ins Jahr 2010 zu den letzten Heldenjahren und ab dort begleitest Du Judith Holofernes beim Lesen chronologisch bis 2019 bzw. bis 2022 im Epilog.

„Ich habe eine freundschaftliche Beziehung zu meinem Körper, aber es ist eine belastete Freundschaft.“

Seite 165

Der Satz fasst das Dilemma gut zusammen: Vieles an sich und seinen Fähigkeiten zu lieben und zu schätzen und sich dabei im Lauf des Lebens dermaßen überzustrapazieren, dass man vor dem gesundheitlichen Abgrund steht, schaffen nicht nur Musiker …

Die ersten 160 Seiten der Biographie habe in einem Rutsch verschlungen, bis etwa Seite 240 war ich gefangen in der Geschichte. Danach zog es sich für mich zeitweise ein wenig hin. Dennoch hatte ich in den meisten Teilen der Geschichte das Gefühl Judith Holofernes direkt zu begleiten wie ein Schatten.

„Ich wollte mein Gehirn mit Licht auswaschen und dann durchsonnt und gereinigt zurückkehren.“

Seite 58f

Ich habe mit ihr gelitten und mich mitgefreut, so dass ich nach dem Weglegen des Buchs immer etwas neben der Spur war. Die bildhafte, dichte Sprache hat mich in ihren Bann gezogen. Die ausführlichen Betrachtungen der körperlich und mental schlechten Phasen waren mir jedoch phasenweise zu lang, auch wenn sie für die Geschichte bedeutsam sind.

Beim Lesen hatte ständig Songs von Wir sind Helden im Ohr. Das war angenehm, denn ich mag die. Allerdings gehöre ich zu den Fans, die aus der anschließenden Solokarriere von Judith Holofernes keinen Song kannte.

Beeindruckend finde ich, wie bewusst Judith Holofernes ihren Weg mit allen Umwegen gegangen ist. Aus einem Popstardasein in ein von der Musikindustrie unabhängiges Leben zu kommen, in ein Leben mit Verträgen, die man erfüllen kann und möchte, ist nichts, was mal so eben passiert.

Das Buch ist aus ihrer Perspektive geschrieben, aber ihre Familie – vor allem ihr Ehemann Pola, Drummer von Wir sind Helden – taucht immer wieder auf, weil die Gestaltung des neuen Lebens eben alle betrifft, die in der Nähe sind.

Die Biographie ist aus meiner Sicht spannend für Leser_innen, die Interesse an ungewöhnlichen Lebenswegen haben, einen Zugang zu Musik und dem Entstehen der Werke.

Das Hörbuch ist von Nora Tschirner gesprochen, einer meiner Lieblingsschauspielerinnen. Wenn Nora Tschirner so schnell redet, wie Judith Holofernes denkt und schreibt, dürfte das Hörbuch Hochgenuss sein.

Ist das ein Buch für Dich?